Worte schaffen Wirklichkeiten
– oder: Sprich zu mir und ich sag dir wer du bist
So wie du etwas sagst, benennst, beschreibst sagt eine Menge über dich aus. Ich glaube das folgende Beispiel ist in ähnlicher Art und Weise in einem der vielen spannenden Bücher des Kybernetikers und Konstruktivsten Heinz von Förster zu finden: stellen wir uns eine Person mittleren Alters vor. Diese Person steht vor einem Bild in einer Galerie und betrachtet es eine Weile. Nach einigen Augenblicken ist ein Seufzen zu hören. „Das Bild ist wirklich obszön“, hört man die Person sagen. Was wissen wir jetzt über das Bild?
Antwort: nichts! Aber wir wissen etwas über die Person. Denn Beschreibungen, Titulierung, Bewertungen, sprachliche Stilmittel, Geschichten, Metaphern geben dem aufmerksamen Zuhörer häufig viele Hinweise über die Innenwelt des Sprechers oder Schreibers. Er oder sie sagt etwas über sich und nicht nur über den Inhalt. Das „Zwischendenzeilenlesen“, kennen wir vielleicht noch aus der Deutsch- oder Englischstunde. Was will der Autor „eigentlich“ damit zum Ausdruck bringen? Warum sagt er das so und nicht anders? In welchem Kontext ist die Aussage zu verorten? In welchem zeitlichen, gesellschaftlichen Rahmen bewegt sich der Erzähler und welchen Hintergrund hat er? Will das Gesagte etwas bestätigen oder soll es irritieren, die Weltsicht von anderen einmal in Frage stellen? Soll es neugierig machen, damit endlich jemand zuhört – so wie in vielen medialen Darstellungen üblich, dass das zu Erzählende in der Fülle an Beiträgen und Sensationen überhaupt Gehör findet.
Spiel mit mir und ich sag dir wer du bist
Für die Psychotherapie gilt etwas Ähnliches wie damals in der Deutschstunde. Wobei Worte allein meist nicht ausreichen. „Reden reicht nicht“, so heißt eine Praxisreihe des Carl-Auer Verlags. In der Kindertherapie ist das Leitmedium nicht die Sprache, sondern das Spiel: was wird gespielt, was inszeniert und vor allem wie wird gespielt und inszeniert? Wirkt das Spielverhalten auf den interessierten Beobachter selbstbezüglich oder wird auf ein mögliches Gegenüber Bezug genommen? Welche Rolle spielt dabei das spielende Kind und in welche Rolle wird sein Gegenüber in gewisser Weise „eingeladen“ oder manchmal auch hineingedrängt?
Einladungen dankend ablehnen
In der Interaktion mit Erwachsenen ist das ähnlich, nur eben nicht im Spiel. Jedoch geht es auch hier um Inszenierung, um Darstellung und Überzeugung, die immer auch „Einladungen“ sind, sich in bestimmter – vielleicht gewünschter – Art und Weise zu erleben und zu verhalten. Aber jeder kann diese Einladungen ausschlagen, so wie man auch das Fenster schließen kann, wenn es draußen zu laut ist. Man muss das Störende nicht ertragen, so wie man einen ruppigen Ton des Partners und mögliche Unterstellungen, man würde etwas mit Absicht machen, oder man sollte das doch wissen, nicht persönlich nehmen muss, sondern aus Ausdruck eines Bedürfnisses des Anderen.
Man kann selbst immer entscheiden, wie man etwas verstehen will. Bereits der berühmte Soziologe Niklas Luhmann hat davon gesprochen, dass Kommunikation mit dem Verstehen beginnt; und dabei liegt es an einem selbst, wie man verstehen will oder wie man im Laufe seines Lebens, seiner Sozialisation gelernt hat zu verstehen. Es gibt hier kein richtig oder falsch und auch keinen Zwang! man kann es vielmehr als „Einladung“ deuten und kann Einladungen dankend ablehnen.
Hinter die Kulissen schauen
Als Psychotherapeut und Kinderpsychologe ist man geübt, hinter die Kulissen zu blicken, gemeinsam mit seinem Gegenüber (Kinder, Jugendliche, Familie, wichtige Bezugspersonen) Hypothesen über Wirk- und Funktionszusammenhänge anzufertigen, Perspektivenvielfalt zu ermöglichen und den Raum für Introspektionsmöglichkeiten zu eröffnen – also Möglichkeit bereitzustellen und diesbezügliche Fähigkeiten aufbauen, sich einmal offen und selbstkritisch mit sich selbst zu beschäftigen, wertfrei, mit einer gewissen Portion an Milde in den Spiegel zu blicken.
Innehalten
Als Psychotherapeut ist man ein soziales Rollenmodell, so wie man als Elternteil, als Freund, Bekannter auch immer ein Rollenmodell für andere darstellt – das heißt nicht, dass es ein Gegenüber auch merkt und einen als nachahmenswertes Modell empfinden muss. Es lohnt sich, sich darin zu üben, genau hinzusehen, hinzuhören, hinzufühlen und den Erzählstrom eines Gegenübers anzuhalten, damit Zeit bleibt hinter die Kulissen zu blicken. Das Innehalten ermöglicht einen „Wahrnehmungs-Shift“. Welche Kognitionen (Gedanken), Gefühle, Körperempfindungen und Verhaltenstendenzen tauchen bei einem selbst und bei seinem Gegenüber unbemerkt auf, während man in Interaktion tritt oder schlicht und ergreifend einen Text liest.
Das Innehalten hilft, das zu sehen, was man sonst nicht sieht. Es ist der blinde Fleck des Beobachters. Was wurde gerade genau von wem gesagt? Was wurde nicht gesagt? Welche Leitunterscheidung liegt dem Gesagten zu Grunde? Wie ist das Gesagte aus seiner und aus meiner Sicht zu verstehen und wie würde vielleicht die Welt aus Kinderaugen aussehen? Warum wird etwas in einer ganz bestimmten Art und Weise ausgedrückt, was ist wohl die Intention und die Gefühlslage?
Perspektivenwechsel
Eine entscheidende Aufgabe nicht nur für einen Psychotherapeuten und Kinderpsychologen ist das Oszilieren, also das hin und her wechseln zwischen verschiedenen Perspektiven – z.B. zwischen Mikro- und Makroebene oder Problem- und Lösungsebene. In der systemischen Familientherapie kennt man hierzu das zirkuläre Fragen. Hier wird beispielsweise ein jugendlicher Klient gefragt, welche Idee er davon hat, was seine Mutter antworten würde, wenn man sie nach seinem gewünschten Zielerleben, seinen Zielvorstellungen fragen würde. Die Antworten sind häufig wirklich verblüffend.
Worte schaffen Wirklichkeiten
Worte schaffen Wirklichkeiten und in der Psychotherapie geht es meist um die Schaffung neuer Wirklichkeiten, neuer Perspektiven, die dem Betroffenen helfen aus der Krise zu (ent-)kommen und damit verbundene psycho-soziale Symptomspektren und/oder psychosomatische Beschwerden zu bewältigen. Es macht daher Sinn, nicht nur einen therapeutischen Zielfokus zu entwickeln und im Prozess immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und ggf. anzupassen, sondern auch lösungsförderliche, die Handlungs- und Selbstwirksamkeit förderliche Foki zu wählen. Ressourcen werden markiert; Fähigkeiten betont und wenn möglich wieder reaktiviert.
Zwischen „Solutiontalk“ und „Problemtalk“
Das Urgestein der lösungsorientierten Therapierichtung Steve de Shazer und seine Frau Insoo Kim Berg betonten immer wieder die Vorteile des „Solutiontalk“ nicht nur für den Klienten, sondern auch für den Therapeuten gegenüber einem reinen „Problemtalk“. Es lässt sich darüber diskutieren, ob ein „Entweder-oder“ hier Sinn macht. Ich denke beide Seiten sind wichtig und helfen dem Klienten beim Verstehen und Bewältigen.
Aber selbst bei Situations- und Verhaltensanalysen scheint es im Erleben des Klienten und auch des Behandlers einen entscheidenden Unterschied zu machen, welche Beschreibungen, welche Worte gewählt werden und wie diese in einen größeren sinnstiftenden Gesamtzusammenhang gebracht werden können. Das heißt es geht hier mit Sicherheit nicht um „Schönreden“, sondern um Wahrnehmen, Einordnen, Unterschiedsbildung, Auswirkungen testen, Prüfen auf Sinnhaftigkeit, Nützlichkeit bezüglich des gewünschten, förderlichen Zielverhaltens und -Erlebens einschließlich entsprechender Handlungsplanung.
Es gibt nichts Gutes, es sei denn man tut es – immer wieder
Handlungsplanung beschreibt schlicht und ergreifend, was Schritt für Schritt zu tun ist – möglichst jeden Tag, um neue funktionale Handlungsroutinen, hilfreiche und vor allem erweitere Beobachtungs- und Bewertungsschemata zu etablieren sowie emotionale Selbstregulationsfähigkeiten zu entwickeln. Jeder kleine Schritt, jedes selbstreflexive Innehalten zahlt in gewisser Weise auf das höherwertige Ziel ein, nämlich auf die Entwicklung einer die seelische Gesundheit förderlichen „Selbst-Bewusstheit“, die einen dazu befähigt, mit Mitmenschen, Umweltgegebenheit, Alltag und Unveränderbarkeiten adäquat umzugehen. Das bedeutet auch, weniger hilfreiche, dysfunktionale „Einladungen“, Einordnungen oder Zuschreibungen von anderen nicht gleich auf sich selbst zu beziehen und ungefiltert anzunehmen, sondern sich besser zu fragen: was sagt, das Gesagte über den Sender der Nachricht aus und was ist dessen dahinterliegende Motiv-, Interessens- und Bedürfnislage?