Wie wirken sich soziale Medien auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aus?
Die Journalistin Mamé Gamamy schickte mir im Vorfeld folgende Fragen, die ich in etwa so für das Magazin beantwortete:
„In meiner psychotherapeutischen Praxis sehe ich einen deutlichen Anstieg an Selbstwertproblemen und Adoleszenten- bzw. Identitätskrisen. Diese manifestieren sich reaktiv in Form von Ängsten, zwangsähnlichen Denk- Verhaltensweisen, depressiven Episoden, Sozialverhaltensproblemen, Konzentrationsschwierigkeiten und Essstörungen. Die Betroffenen kommen also meist mit einem konkreten Symptomen zu mir und niemand denkt zu Beginn daran, dass die unreflektierte Nutzung von sozialen Medien auch einen gewissen Beitrag zum aktuellen Leid beisteuert.“
„Jedes „like“ wirkt wie eine positive Verstärkung im Sinne der operanten Konditionierung. Das „like“ der anderen kann als eine soziale Verstärkung gesehen werden und führt zur Ausschüttung von Dopamin in unserem Belohnungszentrum (mesolimbischen System) im Mittelhirn. In der Folge fühlen wir uns zufrieden und glücklich, woraus ein Streben (Motivation) erwächst nach Mehrdesselben.
Wenn man sich jetzt einmal vorstellt, dass jemand als Kind oder Jugendlicher ein Zuwenig an Interesse und Aufmerksamkeit von seinen Bezugspersonen (Eltern) erfahren hat, oder zu wenig Bestätigung im realen (analogen) Leben erfährt, beispielsweise in der Schule oder im Sport, dann kann man sich ausmalen, welche unglaubliche Sogwirkung der skizzierte Belohnungskreislauf entwickelt, der sich auf der Grundlage eines unzureichend befriedigten Grundbedürfnisses nach Anerkennung und Wertschätzung etabliert.
Aus solch einem Sog kann es so gut wie kein Entrinnen geben, schon gar nicht als junger Mensch, dem Introspektionsfähigkeit, Selbstregulation in Form von Reaktionsverzögerung, Bedürfnisaufschub oder -Verzicht noch viel schwerer fallen, als einem Erwachsen.
Einen Ausstieg gibt es meist erst dann, wenn der junge Mensch entweder von anderen (meistens von den Eltern) in seinem Nutzungsverhalten kontrolliert oder eingeschränkt wird und sich im Rahmen des „Entzugs“ reale Alternativen zum Selbstwertaufbau entwicklen lassen. Oder aber es bildet sich ein entsprechendes (psychisches) Symptom heraus, welches dann bei ausreichendem Leidensdruck zu einem Umdenken bewegt, so zusagen in die Flucht in die Realität. Ob wir infolgedessen in ein paar Jahren von einer Zunahme an narzisstischen oder unsicheren Persönlichkeits-Akzentuierungen bzw. -Störungen ausgehen müssen, wird sich zeigen.“
„Das Tragische ist nicht die Selbstüberhöhung, die gerade in der Jugendzeit als alterstypischer, jugendspezifischer Egozentrismus zu werten ist, sondern die sich unwillkürlich (=unbewusst) zunehmend selbst-perfektionierende Fassade, die mit viel Glamour und Glitzer von der (noch) unzureichend, „morschen Substanz“ ablenken soll, von deren Mangelerscheinung oder sogar Nichtexistenz der junge Mensch eigentlich weiß, sofern er dies nicht verdrängt oder abspaltet (Abwehr).
Der oberflächliche Vergleich jedoch fördert geradezu die Verdrängung und Abspaltung und suggeriert, dass „Substanz“ gar nicht von Nöten sei, weil sie meist nicht Thema der virtuellen Kommunikation in sozialen Medien ist. Und trotzdem weiß der junge Mensch, dass das, was er vorgibt zu sein, sich irgendwie nicht passend anfühlen mag, weil er sich im tiefsten Inneren als mehr erlebt, als nur ein stets gut gelaunter, gut trainierter, erfolgreicher, intelligenter, dynamischer, kreativer, einzigartiger Held und Globetrotter. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Diskrepanz zwischen überzogenem, künstlich aufgebauten „Soll“ und tatsächlichem „Ist“ zu groß wird, und sich Unzufriedenheit, Unruhe, Gereiztheit oder psychisches Leid einstellen.“
„Selbsteinschätzung gelingt immer nur in der Interaktion mit anderen. Allein das „Selbst“ definiert sich immer nur in Bezug zu einem Außen, zu einem „Fremd“. Die Qualität der Interaktion ist dabei entscheidend.
Kleinkinder zum Beispiel lernen die differenzierte Beschreibung von Gefühlen und den Umgang mit ihnen anhand der Interaktion mit ihren Bezugspersonen. Das heißt, wenn zum Beispiel Angst oder Wut in einer Familie nicht gezeigt werden darf und darüber auch nicht gesprochen wird, kennt das Kind vielleicht den Begriff „Angst“ oder „Wut“, aber ihm fehlt, die kognitive Einordnung des Gefühls und ein entsprechender Umgang mit diesen Gefühle, so dass das Kind in seiner Selbstbeschreibung behaupten wird, dass es z.B. niemals Angst habe.
Das interessante daran ist, dass die Person dies tatsächlich von sich glaubt, was aber aus Sicht eines Außenstehenden ganz anders wirkt, der das Verhalten desjenigen beobachtet und psychologisch zu deuten versucht. Der Cloud-Score ist damit alles andere als ein sinnvolles Co-Regulativ und lebt in gewisser Weise ein „krankmachendes“ Modell vor.“
„Wohl kaum, dafür sorgen leider schon die täglichen Nachrichten der Welt. Jedoch auch hier gilt, dass die Diskrepanz zwischen positiv dargestellten eigenen und fremden Erlebnismomenten und dem aktuellen, tatsächlichem, nicht kommunizierten Befinden in der momentanen Lebenssituation zu großem seelischen Leid führen kann, sofern einem eine solche Diskrepanz überhaupt auffällt und diese nicht leugnet oder verdrängt.“